Into the West

Leseprobe Auszug aus Kapitel III

Yelo betrachtete ihre Lehrerin, die sich neben ihr über eine alte Schriftrolle beugte. Ihrem athletischen Körper und den zurückgekämmten kurzen, dunklen Haaren sah man das Alter von vierhundertfünfundzwanzig Wintern nicht an. Sie war die älteste Trekah auf Otheiá und, wie Yelo fand, die klügste. Die für Trekah charakteristischen, dunkelroten Augen verliehen ihr eine Aura von Macht und Weisheit. Sie war einst die Bibliothekarin in Vanders gewesen, einer Schule, in der vor mehr als tausend Wintern die Suvris ausgebildet worden waren. Nun war es ein Ort des Lernens für die Kinder der Wohlbetuchten. Auch Yelo war dort zur Schule gegangen. Allerdings hatte sie sich ihre Unterkunft und Bildung hart erarbeiten müssen. Sahwera war es schließlich gewesen, die Yelo die Kraft der Elemente und die Sprache der Elendeari gelehrt hatte. Sie hatte Yelo zur Priesterin geformt und ihr das benötigte Wissen vermittelt.

Sahwera hatte die Schriftrolle auf dem einzigen Schreibtisch in der königlichen Bibliothek ausgebreitet. Der rechteckige Tisch stand einsam vor einem der großen Fenster und die leeren hölzernen Regale im Raum und an den Wänden verrieten, dass die Bibliothek schon bessere Zeiten gesehen hatte. Immerhin hatten sie die Bücher mit Hilfe der Palastwache aus den Kellergewölben bergen können. Tausende Bücher, in großen Haufen auf dem Boden liegend, warteten darauf, einsortiert zu werden. Allein Sfrelas emsiger Suche war es zu verdanken, dass sie überhaupt die richtige Schriftrolle vor sich zu liegen hatten. Als Bewahrerin des Wissens hatte Sfrela dem Königshaus von Lynark über viele Generationen hinweg beigestanden.

Auch Yelo hatte bei ihr für mehrere Monde gelernt. Noch in Vanders hatte Yelo Diplomatie und Politik als ermüdend gefunden. Diese Dinge hatten in ihren Augen keinen praktischen Nutzen oder Bezug zu der Realität gehabt. So sehr sie sich auch bemüht hatte, sie hatte keine Notwendigkeit für dieses Fach gesehen. Aber Sfrela hatte alles in einen Zusammenhang gebracht. Sie hatte das Wissen mit der derzeitigen Situation verknüpft und Yelo hatte plötzlich verstanden, was es alles bedurfte, um den Frieden nach Otheiá zurückzubringen.

Mit Bedauern hatte sie damals Abschied von der klugen Frau genommen.

Und nun standen sie gefühlt eine halbe Ewigkeit vor dem Tisch und kamen nicht weiter. Die beiden klügsten Frauen, die Yelo kannte, scheiterten daran, die Zeichen einer halb zerfallenen Schriftrolle zu entziffern. Auch Yelo hatte Mühe, den ausgeblichenen Schriftzeichen zu folgen. Immer wieder fuhr sie mit ihrem Zeigefinger die schwachen Umrisse nach, die jedoch mittendrin plötzlich aufhörten. Yelo war frustriert. Die Zeichen könnten alles bedeuten. Vom einfachen Kochrezept bis hin zur Bauanleitung für ein Katapult.

„Das kann doch niemand lesen!“, jammerte Siena, die hinter ihnen ungeduldig auf und ab ging und damit aussprach, was Yelo insgeheim dachte.

„Seit einer Ewigkeit starrt ihr auf diesen Fetzen Pergament. Ist es denn wenigstens die richtige Schriftrolle?“

„Das kann ich noch nicht sagen“, murmelte Yelo. „Die Schrift ist teilweise so verblasst, dass ich nur raten kann. Und die Zeichnung hier kann ich nicht mehr erkennen. Eventuell könnte es sich um den Umriss eines Schiffes handeln. Es könnte aber auch eine Mauer sein. Hm.“ Yelo nahm die vergilbte Rolle in die Hand und hielt sie so, dass möglichst viel Licht auf das Pergament fiel.

„Es ist auf jeden Fall die richtige. Der Verweis im dritten Band von ‚Handwerk in Otheiá‘ war eindeutig.“ Sfrela, im Gegensatz zu den anderen, war sich sicher.

„Der, den du vergessen hast, nach Vanders zurückzugeben?“, fragte Siena.

„Von wegen vergessen!“, schnappte Sahwera. „Einhundertfünfundneunzig Winter! Das sind mehr als einhundertachtzig Winter zu viel! Der Ausleihzeitraum beträgt maxi–“

„Fünfzehn Winter, ich weiß“, unterbrach Sfrela ihre Meisterin mit einem sanften Lächeln. „Bitte lass uns nicht wieder davon anfangen, Sahwera. Immerhin haben wir das Buch gefunden. Wenn auch nicht dort, wo wir es vermutet hatten.“

„Das kannst du laut sagen“, stimmte Sahwera zu. „Wahrscheinlich sollten wir froh sein, dass sie die Palastbibliothek nicht einfach abgebrannt haben. Allerdings haben die zwei Winter in den Katakomben den Büchern und Schriftrollen auch nicht gutgetan.“

„Es ist mir ein Rätsel, warum sie die Bücher in die Kerkerräume geworfen haben. Sie anzuzünden, wäre die leichtere Lösung gewesen, denkt ihr nicht?“, wunderte sich Yelo.

„Ich könnte mir vorstellen, dass sie sich nicht getraut haben. Wahrscheinlich wollten die Söldner keinen Fehler machen und die Entscheidung Lokastron überlassen“, sagte Siena. „Ich kenne das von meinen Leuten. Wenn Beute gemacht wurde und sie nicht wussten, ob es wertvoll ist oder nicht, haben sie alles mitgenommen. Ich habe dann entschieden. Die meisten Söldner konnten wahrscheinlich nicht lesen. Woher sollten sie also wissen, welche Schätze sich in der Palastbibliothek verborgen haben?“

„So oder so, wir haben Glück, dass wir das Buch in dem Haufen wiedergefunden und darin den Hinweis auf diese Schriftrolle entdeckt haben“, sagte Sfrela.

„Ja, wenn wir sie nur noch entziffern könnten!“ Yelo war frustriert. „Wenn es uns wirklich gelänge, die Magie des Luftschiffes wieder aufzuladen, dann könnten wir viel schneller von einem Ort zum anderen gelangen!“

„Für die kommende Schlacht gegen Wramgar wäre das wirklich von Vorteil“, fügte Brâertha hinzu, die bisher abwartend an der Wand gelehnt hatte.

„Und wer soll das fliegen? Du etwa?“, fragte Siena. „Steht da irgendetwas, wie ein Luftschiff gesteuert wird?“

„Was die Steuerung angeht, da habe ich genau die Richtige“, sagte Yelo. „Tara, die ehemalige Kapitänin. Sie wäre sicher überglücklich, mit ihrem ‚alten Mädchen‘ wieder vereint zu sein.“

„Was ist das nur immer mit diesen Bezeichnungen für Schiffe?“, wunderte sich Siena.

„Kinder, wir schweifen ab. Bitte konzentriert euch. Wir haben nicht mehr viel Zeit, bevor die Beratungen beginnen!“, mahnte Sahwera.

„Aber wie sollen wir denn schneller machen, wenn diese Rolle hier nichts anderes hergibt!“, rief Yelo genervt und warf ihre Hände in die Luft, dabei immer noch das Pergament haltend. „Wenn unsere Hoffnung auf diesem Fetzen beruht, dann glaube ich kau–“

„Halt!“, rief Siena aufgebracht. „Nicht bewegen, Yelo! Seht ihr das auch?“

Fragend blickte Siena in die Gesichter der anderen.

„Was ist denn da?“, wunderte sich Yelo mit hocherhobenem Arm.

„Wir brauchen mehr Licht“, forderte Siena Yelo auf, die daraufhin anfing, sich langsam in Richtung Fenster um

ihre eigene Achse zu drehen.

„Halt! Genau so! Bleib ruhig stehen.“

„Also ich sehe nichts“, murmelte Sfrela.

„Weil du nicht genau hinschaust!“, schalt Sahwera.

„Ach ja? Siehst du denn etwas?“

„Nein, noch nicht, aber sicher glei-“

„Da im Licht!“, unterbrach Brâertha das Geplänkel der beiden Trekah. „Da ist es!“

„Was ist da?“, fragte Yelo ungeduldig und begann, ihren Arm zu senken.

„Nein, nicht!“, rief Siena und drückte Yelos Arm mit der Schriftrolle wieder nach oben. Dann wandte sie sich an die beiden Trekah.

„Kommt mal her zu mir und schaut gegen das Licht. Seht ihr die helleren Linien? Sie liegen über der sichtbaren Schrift!“

Sowohl Sahwera als auch Sfrela stellten sich neben Siena und betrachteten eingehend das Pergament, welches von der hereinfallenden Sonne durchleuchtet wurde. Dann begann Sahwera zu schmunzeln.

„Die Linien ergänzen die sichtbaren Schriftzeichen.“

„Und seht euch die Zeichnung an! Diese Arbeit ist wirklich außergewöhnlich!“, stimmte Sfrela zu.

„Ähm, ich will ja euren Enthusiasmus nicht stören, aber könntet ihr ein wenig schneller machen? Mein Arm tut langsam weh“, bemerkte Yelo.

„Ich habe eine Idee!“, rief Brâertha und stürmte aus der Bibliothek.

„Wo will sie denn hin?“, fragte Siena. Doch sie bekam keine Antwort. Die beiden Trekah studierten aufmerksam die Schriftrolle, während Yelo von einem Bein auf das andere trat und ihren Oberkörper hin und her drehte, in dem Versuch, ihre Schultern zu lockern.

„Jetzt halte doch bitte still“, mahnte Sahwera. „Ich habe den Satz schon zum dritten Mal begonnen.“

„Ich hoffe, deine Mutter macht schnell. Ich spüre meinen Arm nicht mehr!“, murmelte Yelo zu Siena, die sie mit einem Schulterzucken angrinste.

„Tja, wenn mein–“

„Hier, damit sollte es gehen!“, sagte Brâertha und trug einen großen Holzrahmen herein. „Das ist unsere alte Staffelei. Ich weiß noch, wie Meister Falerius versucht hat, Brâer und mir die Freude an Stillleben beizubringen. Genau einen Sommer lang, dann hatte Vater Erbarmen mit uns.“

„Wohl eher Mitleid mit dem armen Falerius“, widersprach Sfrela. „Wenn ich mich recht entsinne, habt ihr dem armen Mann jede Menge Streiche gespielt. War da nicht irgendetwas mit Holzleim im Pinselglas?“

„Ja, das stimmt!“, lachte Brâertha. „Das hatte ich beinahe vergessen!“

Sie baute die rechteckige Staffelei vor dem Fenster auf und gemeinsam mit Yelo, die unglaublich froh war, ihre Arme zu senken, befestigten sie die Schriftrolle so, dass das Licht hindurch schimmerte.

„Jetzt weiß ich, was ihr meint“, sagte Yelo, nachdem sie eine Weile das Pergament studiert hatte. „Verstehe ich es richtig, dass das Ritual eine Art ‚Thar´wat kaa neâ - Erwachen der Göttin‘ ist?“

„Ja, so würde ich es auch interpretieren“, stimmte Sahwera zu. „Das Holz, aus dem das Schiff gebaut wurde, ist Teil Otheiás, genau wie wir alle. Dir als Suvris ist es aber möglich, diese besondere Verbindung mit Jolah aufzubauen und dem Holz … hm ja, ‚die Erinnerung an die Schöpfung zurückzugeben‘.“

„Also lädst du die Magie wieder auf?“, fragte Siena.

„Ja, so verstehe ich es auch“, antwortete Yelo. „Aber wie genau das gehen soll, kann ich hier nicht finden.“

„Das Thar´wat kaa neâ, Yelo, ist keine Sache, die du machst“, sagte Sfrela. „Es ist ein Zustand der völligen Hingabe, eine Art Vereinigung mit der Göttin und dem Land.“

„Ich könnte mir vorstellen, dass du die Liebe, die du für Jolah und ihre Schöpfung empfindest, auf das Schiff übertragen musst“, führte Sahwera fort.

„Siena, erinnerst du dich daran, als Yelo ihr Thar´wat kaa neâ hatte?“, fragte Sfrela. „Wir waren beide so geblendet, dass wir unsere Augen schließen mussten. Und ich denke, dieses Licht ist es, was das Holz durchtränken muss.“

„Dann los, Yelo, fang an“, forderte Siena auf.

„Ich glaube nicht, dass es so funktionieren wird.“ Brâertha zeigte auf die Zeichnung, in der jemand am Bug des Schiffes stand, umhüllt von einem hellen Schein.

Yelo schaute von einer zu anderen, dann atmete sie tief durch und nickte.

„Also gut, auf nach Fýnôn.“

 

 

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