Yelos Stimmung war auf einem Tiefpunkt. Sie hatte nichts gefunden. Keine Überlebenden, keine Hinweise, noch nicht einmal Anzeichen von Trilljas. Thorus war eine leblose Einöde. Das Land war verbrannt, vergewaltigt, leer. Nichts als Staub und tote Erde. Seit einem halben Mond war sie nun in Thorus gen Süden gewandert. Der Schatten des Denar-Gebirges ihr ständiger Begleiter. Ohne das Gebirge und die wenigen kleinen Rinnsale, die sich den Bergrücken hinab ergossen, hätte Yelo längst umkehren müssen. So war wenigstens ihr Trinkschlauch immer gut gefüllt.
Kiala hatte sie am gestrigen Tage verlassen. Dekale kamen einige Zeit ohne Futter aus, doch nach jedem Mond verließ Kiala Yelo, um sich mit anderen ihrer Art zu treffen und gemeinsam zu jagen. Anschließend kehrte sie zu ihr zurück. Egal, wo Yelo sich gerade befand. Wie die Dekale zueinander fanden, oder wie Kiala sie jedes Mal aufspüren konnte, blieb ein Geheimnis. Sie waren Geschöpfe der Göttin.
Alles, was Yelo von Dekalen wusste, war, dass es nur weibliche Dekale gab. Sie wurden sehr alt, doch niemand konnte sagen, wie viele es tatsächlich von ihnen gab. Obwohl sie einst mit den Elendeari nach Otheiá gekommen waren, hatten sie eine eigene, mystische Vergangenheit. Als die Elendeari Otheiá verlassen hatten, blieben die Dekale, obwohl sie bis dahin so eng mit den Elendeari gelebt hatten. Warum sie blieben, wusste niemand.
Von der Statur den Wölfen ähnlich, wenn auch doppelt so groß, gaben ihnen die regenbogenfarbene Iris ihrer Augen sowie die dicken Hornplatten auf ihrem Rücken ihr charakteristisches Aussehen. Dekale waren Raubtiere, und sie mussten die Freiheit haben zu jagen. Ihre bevorzugte Beute war das Damwild in den Wäldern, aber auch Kaninchen und kleinere Tiere. Mit dem Verstreichen der Winter waren nach und nach auch die Dekale verschwunden. Wohin sie verschwanden, war unbekannt. Übriggeblieben waren nur Geschichten, die sich nachts am Lagerfeuer erzählt wurden.
Kiala würde in einem halben Mond zu ihr zurückkehren. Für sie selbst war es Zeit umzukehren. Sie hatte in Thorus nichts erreicht.
Eine letzte Nacht würde sie an der Grenze zu Mideria verbringen und sich morgen wieder gen Norden auf den Weg machen. Unmittelbar nachdem die Sonne ihren höchsten Punkt erreicht hatte, verdunkelte sich der Himmel und es begann zu regnen. Es dauerte nicht lange und Yelo war bis auf die Haut durchnässt.
Kurz vor Einbruch der Dunkelheit fand Yelo eine kleine, ausgewaschene Höhle am Fuße der Berge.
Te‘cha Jolah! - Gepriesen seist du, Jolah!
Yelo schickte einen kurzen Dank an ihre Göttin. Die Höhle war geradezu perfekt! Sie war tief genug, dass sie ein trockenes Plätzchen für sich und ein kleines Feuer fand. Ein paar abgebrannte Baumreste, die Yelo unterwegs gefunden hatte, würden ihr die notwendige Wärme spenden und ihre Kleidung trocknen.
Als sich die Dunkelheit schließlich über ihr ausbreitete, war der Himmel immer noch wolkenverhangen. Yelo konnte weder Isen noch Frew ausmachen. Die beiden Monde blieben ihrem Blick verborgen. Yelo machte sich wenig Hoffnung, dass sie Jagra, den dritten Mond, heute noch zu Gesicht bekäme. Dies versprach eine dunkle, trostlose und vor allem einsame Nacht zu werden. Allein mit ihren Gedanken und Zweifeln bereitete Yelo ihre Lagerstatt vor.
Bei einem kargen Abendmahl, was aus den letzten Resten von getrocknetem Wild bestand, wanderten Yelos Gedanken zu Kevra. Wo war sie? Vermisste sie Yelo auch? Dachte sie überhaupt noch an sie? Was, wenn Kevras Gefühle inzwischen erloschen waren und sie an Yelo nur noch voller Dankbarkeit dachte? Immerhin hatten sie ja nur diesen einen Kuss geteilt. Und schließlich war Kevra die Prinzessin und künftige Thronerbin Etrions. Ihr war es bestimmt, Otheiá wieder zu vereinen. Wo wäre da ihr Platz? Gab es für Yelo überhaupt einen? Die Unsicherheit kroch in ihr hoch und Selbstzweifel lähmten ihren ganzen Körper. Yelo wünschte, sie hätte nicht ihr Herz verloren. Zumindest nicht ausgerechnet an Kevra. Es wäre um so vieles einfacher, wenn Kevra einfach nur eine gewöhnliche Frau wäre. Ohne Königreich oder Erbe, das es anzutreten galt. Aber nein, das wäre ja zu einfach gewesen! Yelo lachte leise in sich hinein. Als wenn sie da irgendeine Mitsprache gehabt hätte!
Sie wusste nur, dass sie eines Abends völlig verärgert über Kevra schlafen gegangen war und am nächsten Morgen an nichts Anderes mehr denken konnte, als wie sich ihre Hüfte beim Laufen wiegte oder wie ihr Brustkorb sich beim Atmen hob und senkte.
Yelo spürte, wie das Blut in ihre Wangen schoss. Sie saß hier allein, im südlichsten Zipfel von Thorus in einer Höhle, während es draußen in Strömen regnete und bloß der Gedanke an ihre Freundin trieb ihr vor Verlegenheit die Röte ins Gesicht. Sie schüttelte über sich selbst den Kopf. Und noch ein Gedanke beschäftigte sie. Kevra war doch ‚ihre‘ Freundin – oder nicht? Oder war sie nur ‚eine‘ Freundin? Wo standen sie? Was waren sie füreinander? Der Zweifel nagte an Yelo und die Sehnsucht nach Kevra ließ sie nicht zur Ruhe kommen.
Das Feuer war schon längst niedergebrannt, als Yelo schließlich in einen unruhigen Schlaf fiel.
Sie träumte von fliegenden Schiffen ohne Kompass, Otheiá in Flammen und einer Hochzeit, zu der sie nicht eingeladen war.
Eine Stimme schließlich riss Yelo aus dem Schlaf.
„Suvris, Eloneri wêrah tch’e ymtoî la. Hesta‘sa, Otheiá ya di Merâéth! - Suvris,Jolah hat dich auserwählt, für sie zu streiten. Doch du musst dich beeilen, Otheiá ist in Gefahr!“
Erschrocken richtet sich Yelo auf. Ihre Brust brannte. Die Worte hallten in ihrem Kopf wider. Wer hatte sie gerufen? Ihre noch müden Augen verfingen sich im aufkommenden Dämmerlicht des nahen Morgens.
„Ist da jemand?“
Yelos Stimme war rau. Ihre Hände schlossen sich um die Griffe ihrer Schwerter. Niemand antwortete. Versteckte sich da jemand? Oder hatte sie das alles nur geträumt? Doch die Stimme war eindringlich gewesen und hatte Yelo aufgefordert, sich zu beeilen. Und sie hatte in der alten Sprache zu ihr gesprochen. Die Sprache der Göttin Jolah. Nur wenige kannten sie. Wer also rief sie und mahnte zur Eile?
Leise huschte sie hinaus in die morgendliche Dämmerung. Kurze Zeit später kehrte sie unverrichteter Dinge wieder zurück. Sie hatte niemanden entdecken können.
Ratlos setzte sie sich an die Überreste des kleinen
Feuers und stocherte in der kalten Asche herum. Wurde sie langsam verrückt? Hatte sie sich die Stimme nur eingebildet?
Das Brennen auf ihrer Brust wurde stärker. Ihre müden Finger tasteten nach dem Amulett, das neben ihrem Medaillon um ihren Hals hing und auf ihrer nackten Haut ruhte. Es war ganz heiß! Vorsichtig zog Yelo es an der silbernen Kette unter ihrem Hemd hervor und betrachtete es. Die Vorderseite schmückte eine Art kleine Kompassnadel, die jedoch nicht nach Norden zeigte. Sie drehte das Schmuckstück nachdenklich um.
„Aber wie …? Das ist ja …!“
Überrascht starrte Yelo auf die Rückseite des kleinen Amuletts, das sie in Fýnôn von einer alten Frau erhalten hatte. Dort eingebettet befand sich, ebenfalls in Silber gefasst, ein Techeat. Ein Halbedelstein mit einer wunderschönen violetten Farbe, die sich zur Mitte hin in Weiß verlor. Normalerweise. Doch nun wirbelten die Farben durcheinander. Aus Violett und Weiß wurden Rot und Dunkelblau. Nur, um sich darauf in einem schimmernden Gelb zu verlieren. Das Amulett ruhte heiß in ihrer Hand. Fasziniert betrachte Yelo das Farbenspiel, als sie wieder die Stimme vernahm.
„Hesta‘sa, Otheiá ya di Merâéth! - Beeile dich, Otheiá ist in Gefahr!“
Verwirrt schaute Yelo auf. Sie hatte die Stimme deutlich in ihrem Kopf vernommen, da gab es keinen Zweifel. Die Hitze in ihrer Hand ließ Yelo wieder auf das Amulett blicken. Konnte es sein …? Sicher nicht. Oder doch? Kam die Stimme aus dem Amulett? Das Farbenspiel hatte an Intensität zugenommen. Immer schneller wechselten die Farben. Allein vom Zuschauen wurde Yelo mulmig. Plötzlich erstarrte der Farbenwirbel. Das Amulett begann zu schimmern. Immer heller und heller. Völlig geblendet hielt es Yelo weit von sich und blinzelte durch halb geschlossene Lider.
„Was zur Göttin …?“
Doch sie kam nicht mehr dazu, ihren Satz zu vollenden. Vor ihr, auf der Wand in ihrer kleinen Höhle, formte sich ein Schimmer, dessen Umrisse an einen Berg erinnerten. Immer deutlicher wurde das Bild. Schon konnte Yelo erste Schatten und Zerklüftungen erkennen. Was anfangs wie ein einzelner Berg ausgesehen hatte, war vielmehr ein ganzes Bergmassiv. Ein Gebirgszug, wie Yelo ihn noch nie gesehen hatte. Der Gebirgskamm schien scharf wie eine Schwertklinge, doch an den Seiten fielen die Hänge sanft geschwungen herab. Der Grat ging auf der linken Seite in ein massives Plateau über. Die rechte Seite jedoch fiel steil hinab und bildete die Silhouette eines Frauenkopfes. Fasziniert blickte Yelo auf das Bild. Diese Silhouette. Diese Frau. Sie kam ihr bekannt vor. Doch woher genau, konnte sie nicht sagen. Yelo war sich sicher, dass sie dieses Gesicht schon einmal gesehen hatte.
Aber wo?
„Hesta‘sa, Yelo! - Beeile dich, Yelo!“
Da war es wieder! Sie hörte die Worte deutlich in ihrem Kopf. War dies eine neue List Lokastrons? Dunkle Magie? Doch warum sollte ihr das Amulett dann dieses Bild zeigen? Und wo war dieses Bergmassiv überhaupt? Otheiá hatte riesige Gebirgszüge. Wo sollte das sein? Sollte sie diesen Ort aufsuchen? Und wenn ja, warum? Und noch viel wichtiger – wer schickte sie?
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